Die Küstenstraße brachte uns durch Wälder und kleine Dörfer nun weiter nach Norden ins nächste Land. Lettland ist das zweitgrößte Land des Baltikums, nur wenig kleiner als Litauen. Die Grenze bemerkt man zunächst kaum. Nur ein großes, blaues Europa-Schild mit dem Ländernamen und die Hinweistafel auf die Geschwindigkeitsbegrenzungen zeigt einem, dass man gerade eine Staatsgrenze passiert hat. Unser Plan war, mehr oder minder immer entlang der Küste weiterzufahren und wir waren schon sehr gespannt, was uns alles erwarten würde.
Schon wenige Kilometer nördlich der Grenze zog es uns in den kleinen Ort Pape. Ausgedehnte Feuchtgebiete rund um den gleichnamigen See beherbergen besonders zur Zeit des Vogelzugs zahllose Arten, wir hatten in dieser Hinsicht nicht sehr viel Glück und sahen nur wenige Tiere. Auch das südlich des Ortes gelegene Freilichtmuseum hatte leider geschlossen, so dass wir uns die historischen Bauern- und Fischerhöfe nur von außen ansehen konnten. Trotzdem war der Besuch wirklich interessant und hat sich für uns gelohnt.
Nördlich von Pape wurde uns der Weg auf der kleinen, unbefestigten Straße leider durch ein Verbotsschild versperrt, so dass wir unsere Reise auf der Küstenstraße fortsetzten. Ein Abstecher bei Bernāti brachte uns für eine Pause direkt zum Strand, bevor es weiter ging zur Hafenstadt Liepaja. Wer uns kennt, weiß, dass Städte generell nicht so unsere favorisierten Destinationen sind, und so zog es uns dann auch eher in den nördlichen, für uns geschichtlich interessanten Stadtteil Karosta, wo sich früher ein wichtiger Kriegshafen des Russischen Reiches und später der Sowjetarmee befand. Zuletzt war hier die Hauptbasis der sowjetische Ostseeflotte mit mehr als 20.000 Soldaten, 30 Atom-U-Booten und 140 Kriegsschiffen. Nach der Unabhängigkeit Lettlands und dem damit verbundenen Abzug des Militärs verwahrloste der Stadtteil ziemlich. Zahlreiche Ruinen und Fundamente erinnern an diese Zeit und an einigen Stellen möchte man zwischen den baufälligen, zu einem guten Teil aber bewohnten Plattenbauten nur ungern mehr Zeit verbringen. Im krassen Gegensatz dazu steht der orthodoxe Dom St. Nikolaus mit seinen goldenen Zwiebeltürmen. Nach einem Besuch an der Nord-Pier und einer ausführlichen Erkundung machten wir uns wieder auf den Weg.
Nach einer weiteren Pause am Wasser fanden wir in der Nähe des Örtchens Ziemupe einen netten Übernachtungsplatz zwischen Bäumen direkt hinter dem Stand. Die ganze Küste ist hier einfach atemberaubend schön. Und nicht nur das: Ein Sonntag mitten im Juni, knallblauer Himmel, Sonnenschein, 23°C im Schatten, ein toller, sauberer Strand mit klarem Wasser – und wir sind ganz allein. Abends dann ein toller Sonnenuntergang. Einfach toll…
Noch ein Besuch am Fuß eines Leuchtturms und bei einem ehemaligen, sowjetischen Küstenwachturm, dann borgen wir ab ins Landesinnere in Richtung Kuldiga, um uns dort den Wasserfall „Ventas Rumba“ anzusehen. Nun, „Wasserfall“ ist ein großes Wort und es liegt sicher im Auge des Betrachters, wie spektakulär man etwas findet, Wir fanden es mäßig beeindruckend und leider auch touristisch stark bevölkert.
Also lieber wieder zurück zur Ostsee, genauer zu einem weiteren Leuchtturm bei Užava. Hier fand sich dann etwas weiter nördlich auch eine landschaftlich sehr schöne, unbefestigte Strecke unmittelbar zwischen Küstenwald und Strand. Als der Weg nach einer Weile in den weichen Strandsand überging, rächte sich unsere Bequemlichkeit, vorher nicht Druck aus den Reifen gelassen zu haben und wir saßen mit dem Esel im Tiefsand fest. Nach dem „air down“, dem manuellen „Planieren“ von rund fünfundzwanzig Metern des Weges und der Nutzung unserer Bergehilfen (wie schön, wenn man so etwas mitführt…) waren wir wieder frei.
Unser nächstes Ziel war die Stadt Ventspils an der Mündung des Flusses Venta. „Pils“ heißt „Burg/Schloss“ und tatsächlich wollten wir uns diese namensgebende, älteste mittelalterliche Festung des Baltikums gern ansehen. Irgendwie erwischen wir aber gar nicht so selten den falschen Zeitpunkt und so war auch hier leider Ruhetag. Wir trieben uns noch etwas in Stadt und Hafen herum, tranken einen Kaffee und machten uns schließlich auf in Richtung Kap Kolka. Unterwegs gab es, wie eigentlich fast immer, allerlei kleinere Abstecher. Einer davon führte uns nach Irbene. Hier betrieb die sowjetische Armee bis Anfang der 1990er Jahre einen großen Horchposten mit mehreren großen Parabolantennen. Die Anlagen sind heute zum größten Teil Ruinen, die größte Antenne wird jetzt als Radioteleskop für friedliche, wissenschaftliche Zwecke genutzt. Neben dem morbiden Charme der leerstehenden Kaserne wirkt auch die Lage so eines Objekts mitten in den Dünen ein wenig skurril.
Kap Kolka selbst, die Landspitze zwischen der offenen Ostsee und der Rigaer Bucht, haben wir nur kurz besucht, wir fühlten uns zwischen den größtenteils per Bus angereisten Menschentrauben nicht so lange wohl. Die Küste bietet hier aber so viele schöne Plätze, dass uns das gar nicht weiter tangierte. So fanden wir dann unter anderen auch einen tollen Übernachtungsplatz unterhalb eines Leuchtturms auf einer anderen Landspitze.
Das berühmte Seebad Jurmala, das heute vor allem bei gutbetuchten russischen Touristen beliebt ist, lag an unserer Route nach Riga. Wir hatten schon einiges darüber gelesen und die Beschreibungen hatten sich ein wenig angehört, als wenn es dort ein wenig wie in Kampen oder Westerland zugehen würde. Und schon am Ortseingang erhärtete sich der Verdacht – für die Einfahrt in den Ort wurde eine Maut fällig – oder vielleicht sollte ich es „Eintritt“ nennen. In Jurmala ging es dann auch tatsächlich modern-mondän zu und war ziemlich voll. Nach der doch relativ menschenleeren Natur an der Westküste des Landes war das nun erst recht nichts für uns und wir beschlossen, gleich Richtung Riga, der Hauptstadt Lettlands, weiterzufahren.
Riga hatten wir auch während der Baltic Rallye 2015 schon besucht und uns vorgenommen, die schöne Altstadt rund um den Marktplatz noch einmal näher anzuschauen – was wir jetzt nachholen konnten. Besonders wichtig – nicht nur zum Einkaufen – war uns aber ein ausgiebiger Besuch im „Rīgas Centrāltirgus“, dem Zentralmarkt von Riga. Er ist in drei ehemaligen Luftschiffhallen unweit der Altstadt untergebracht und war in den 1930er Jahren der größte Lebensmittelmarkt Europas, heute ist er immer noch der größte Lettlands. Die Auswahl an frischen Lebensmitteln aller Art ist gigantisch. Allein schon die Gerüche und die Beobachtung des Markttreibens beim Bummeln durch die Hallen und über das Freigelände machen einen Mordsspaß. Bepackt mit allerlei leckeren Sachen machten wir uns auf den Weg zum Nationalpark Gauja.
Dieser größte und älteste Nationalpark des Landes erstreckt sich über einen großen Teil des Urstromtals des gleichnamigen Flusses Gauja und bietet zahlreiche, unterschiedliche Landschaften mit viel Wald, Seen, Bach- und Flussläufen. Ein kleines, gefühltes Abenteuer war die kleine Holzfähre über die Gauja bei Legatne. Eine kleine, schwimmende Holzplattform bewegt sich, an einem Stahlseil geführt, durch die Strömung von Ufer zu Ufer und schwankt vor allem beim Rauf- bzw. Runterfahren doch schon etwas. Zuerst hatten wir Bedenken, ob wir wohl auch mit dem gegenüber einem PKW deutlich schwereren Sprinter übersetzen könnten, aber das war dann gar kein Problem. Die Überfahrt ist ein nettes Erlebnis und kostet nur wenige Euro, mit denen man zum Erhalt dieser Einrichtung beitragen kann.
Östlich des Nationalparks liegt die kleine Stadt Cesis, in der wir die mittelalterliche Burg besuchen wollten. Die Burg selbst ist zum größten Teil Ruine, wurde aber über die Jahrhunderte noch um ein direkt angrenzendes, kleines Schloss erweitert. Ein großer Teil der Burg kann besichtigt werden, im Schloss befindet sich eine Ausstellung zur Geschichte der ganzen Anlage. Darüber hinaus ist Cesis ein echt netter Ort, in dem wir uns ein Weilchen aufgehalten haben.
Zurück an der Ostküste der Bucht von Riga erwartete uns noch ein recht skurriles Ziel. Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, besser bekannt als Baron Münchhausen oder der „Lügen-Baron“, baute hier seinerzeit ein kleines Schloss als Landgut, auf dem er viele Jahre verbrachte. Im Erdgeschoss des Schlösschens befindet sich heute eine Ausstellung zum Leben des Barons, im ersten Stock sind – ohne Zusammenhang zu Münchhausen – Wachsfiguren verschiedener Persönlichkeiten und (warum auch immer) eine riesige Bierkrug-Sammlung untergebracht. Außerhalb lädt ein Park zu einem Spaziergang zum Strand ein und nebenan kann man einen Snack oder ein Eis bekommen.
Von hier aus führte unsere Strecke weiter durch Küstenwälder in nach Norden in Richtung Estland. Lettland hat uns wirklich ausnehmend gut gefallen – wunderbare Natur, nicht überlaufen, tolle Übernachtungsplätze, freundliche Menschen und eine interessante Geschichte und Kultur. Ach ja – und die besten Piroggen des Baltikums!
Zuletzt geändert: 25.06.2022