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Das dritte Land unseres Roadtrips durch das Baltikum war – irgendwie logisch – schließlich Estland. Dieses nördlichste der drei Baltenländer ist deutlich kleiner als die beiden anderen, dafür gibt es aber einige Inseln, auf die wir uns schon besonders freuten. Den Grenzübertritt auf der kleinen Küstenstraße hätten wir fast gar nicht bemerkt. Immer noch an der Küste der Rigaer Bucht, machten wir uns auf die Suche nach dem nächsten Übernachtungsplatz.

Nach ein bisschen Hin und Her fanden wir einen tollen Platz mitten im lichten Wald und nur etwa zwanzig Meter vom Strand entfernt. Der Platz gehörte zu den offiziellen Natur-Campsites der estnischen Forstverwaltung (RMK) und war wirklich klasse. Rund um uns herum nur Natur, ein toller, menschenleerer Strand und die einzigen anderen Camper bestimmt dreihundert Meter entfernt und außer Sichtweite. Fast besser als Wild-campen. Diese Plätze, oft mit Feuerstellen und manchmal auch mit Tischen oder Plumpsklo, gibt es an vielen Stellen in den Wäldern Estlands. Meistens sind sie kostenlos, manchmal kommt ein Ranger und kassiert ein paar Euro für die Instandhaltung. Aufmerksam wurden wir auf diese Einrichtungen übrigens durch einen Blogpost bei G-Trotter.net – vielen Dank nochmal für den Tipp!

 

 

Estland   drum herum und mitten durch

Natur-Campsite direkt im Uferwald der Ostsee

Von hier aus fuhren wir, fast immer in direkter Nähe zum Meer, in Richtung Virtsu, wo wir die Fähre nach Kulvastu auf der Insel Saarema nehmen wollten. Die Wartezeit war erträglich, ebenso die Kosten für die Fähre. Nach der kurzen Überfahrt auf Estlands größte Insel wollten wir uns eigentlich erst mal in einem angeblich ganz tollen Café im Dort Orissaare etwas stärken, konnten es aber leider partout nicht finden. Weder die Adresse noch der Placemark in der Karte auf der Website des Betreibers stimmten. Pech gehabt, macht auch nichts…

 

 

Estland   drum herum und mitten durch

Nicht die Fähre, sondern Bus-Wartehäuschen

Mit ein paar Umwegen hielten wir uns grob in Richtung Kuressaare (ehem. Arensburg), der einzigen Stadt auf Saarema. Uns lockte die große, historische Festung, in der sich heute auch ein Museum befindet. Nach einer ausgiebigen Erkundung verließen wir die kleine Stadt wieder und fuhren weiter zum südlichen, schmalen Teil der Insel.

 

 

Am „untersten Zipfel“ liegt der Leuchtturm Sorve mit einigen Gebäuden und einem Café. Nachdem wir dort einige Zeit herumgelaufen waren, kam durch irgendeine Veranstaltung eine gewisse Hektik auf und es wurde uns zu voll. Nach einem kurzen Zwischenstopp an den Ruinen einer kleinen Geschützstellung zog es uns weiter entlang der Küste in etwas einsamere Gefilde. Die Küste Saaremas war an vielen Stellen, wie überhaupt ein großer Teil der baltischen Küstengebiete, zu Sowjet-Zeiten militärisches Sperrgebiet. Oft führen ehemals von der Armee angelegte Wege bis fast zum Strand, andere dienen als Zufahrt für kleine Orte oder Höfe. Unterwegs fanden wir so einige richtig tolle Plätze auf Saarema.

 

Estland   drum herum und mitten durch

 

 

Eigentlich hatten wir geplant, von Saarema aus gleich hinüber auf die nördlich gelegene Insel Hiiumaa zu fahren. Die Fährzeiten waren für uns eh etwas ungünstig, aber vor allem sollte die Überfahrt aus irgendeinem unerfindlichen Grund so teuer sein, dass es um ein Vielfaches günstiger war, zurück aufs Festland und von dort aus nach Hiiumaa zu fahren. Das gab uns dann auch die Gelegenheit, noch etwas über Land auf Strecken zu fahren, die wir sonst nicht gesehen hätten. Einige Kilometer vor dem Fährterminal Rohtabak erkundeten wir die Ruine eines niemals fertig gestellten Schlosses, das ein ungarischer Adliger vor Jahrhunderten begonnen hatte. Nach dieser kleinen Erkundung mussten wir nicht mehr lange auf die nächste Fähre warten und schon nach kurzer Zeit waren wir auf der nächsten Insel.

 

 

Hiiumaa ist der nordwestlichste Teil Estlands und war für die damalige Sowjetunion ein strategisch sicherlich  wichtiger Punkt in der Ostsee. Die baulichen Relikte dieser Zeit finden sich noch heute an einigen Stellen im Wald und an der Küste. Im Norden der Insel erinnert ein interessantes Museum mit einer Vielzahl ausgemusterten Geräts an historischem Ort an diese Zeit. Neben Exponaten zur militärischen Geschichte der Insel werden zahlreiche Fahrzeuge und Geräte gezeigt – darunter auch ein paar aus westlicher Produktion. Bei dem einen oder anderen, fahrbaren Exponat kommen schon mal Gedanken auf, ob das nicht eine prima Basis für einen ganz friedlichen Overland-Camper wäre …

 

 

Den inzwischen zu gewisser Berühmtheit gelangten „Eiffelturm“ aus Holz konnten wir leider nicht lokalisieren. Zwar fand sich ein Schild, darunter aber auch ein handgeschriebener Hinweis, der uns auf einen bereits erfolgten Abbruch hinzuweisen schien. Zu sehen war der Turm auch nicht. Gefunden haben wir dafür den „Hill of Crosses Estonia“. An dieser Stelle mitten im Wald stehen zahlreiche Holzkreuze, die angeblich im achtzehnten Jahrhundert von Angehörigen einer Volksgruppe vor ihrer Vertreibung durch die Zarin aufgestellt worden sind. Dieser Ursprung dürfte durchaus stimmen, die Mehrzahl der Kreuze ist aber einfach aus Ästen und dürfte wohl eher von Touristen stammen. Der Ort ist ganz interessant, aber bei weiten nicht so eindrucksvoll wie der „Berg der Kreuze“ in Litauen.

 

 

Die Suche nach schönen Übernachtungsplätzen gestaltet sich – wie eigentlich überall im Baltikum – auf Hiiumaa einfach. Wir hatten jedenfalls überhaupt keine Schwierigkeiten damit und fanden wirklich tolle, einsame Plätze.

Mit der Fähre ging es auf gleichem Weg wieder aufs Festland. Auch unser nächstes Ziel hatte wieder mit der jüngeren Geschichte zu tun. Etwas südlich des auch heute noch militärisch genutzten Flugplatzes Amari liegt, direkt neben der Zufahrtsstraße hinter einigen Bäumen am Waldrand ein Friedhof für ums Leben gekommene sowjetische Soldaten. Viele von ihnen scheinen abgestürzte Piloten zu sein, denn auf einigen Gräbern hat man neben dem eigentlichen Grabstein noch ein steinernes Flugzeug-Seitenleitwerk aufgestellt.

 

Estland   drum herum und mitten durch

Sowjetischer Pilotenfriedhof Amari

 

Von hier aus fuhren wir nach Norden an die Küste nach Paldiski. Der Ort und seine ganze Umgebung zeugen von ehemals intensiver Nutzung durch das Militär, das auch heute noch präsent zu sein scheint. Natürlich ist es heute nicht mehr die Sowjetarmee, sondern die Estnischen Streitkräfte. Die Stadt selber ist eine der typisch sowjetischen Plattenbau-Siedlungen und „wenig attraktiv“ ist mehr als geschmeichelt. Die eigentlich landschaftlich schöne Umgebung ist leider ziemlich durchsetzt mit eher hässlichen Relikten. Das war uns dann doch etwas viel und wir kehrten der Landspitze zwischen Rogervik und Lahhenebucht den Rücken und machten uns auf den Weg in Richtung Tallinn.

 

Estland   drum herum und mitten durch

Steilküste nördlich von Paldiski

 

Die Hauptstadt Estlands hieß früher einmal Reval und war eine der wichtigsten Hansestädte. Die lange und wechselvolle Geschichte ist noch heute im Stadtbild sichtbar, besonders die Altstadt ist wirklich schön. Leider ist es dort auch fast immer sehr voll, Tallinn wird fast täglich von Kreuzfahrtschiffen angelaufen und diese Tagesgäste möchten sich die Stadt natürlich auch ansehen. Fast immer, wenn wir unterwegs die Gelegenheit haben, besuchen wir einen regionalen Markt. In Tallinn war es der „Balti Jaama Turg“, der täglich geöffnet hat und in großen, ehemaligen Eisenbahn-Hallen untergebracht ist. Hier gibt es neben frischem Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch auch noch allerlei andere Dinge und einige Snack-Stände. Letztere fanden wir, im Gegensatz zu den Markt-Waren, aber recht teuer. Trotzdem, ein Besuch lohnt.

 

 

Weiter im Osten machten wir einen Abstecher zum Jagala-Wasserfall. Hier gibt es zwei Zufahrten, von denen die nördliche über schlechte Wegstrecke führt. Die südliche Zufahrt ist entweder leichter zu finden oder besser ausgebaut, dafür waren wir am Nordufer, anders als gegenüber, ganz allein und ungestört und hatten einen tollen Blick auf den Wasserfall. An der Küste des Finnischen Meerbusens fanden wir wieder zahlreiche schöne Plätze und tolle, wenig befahrene Strecken. Am nördlichsten Punkt Estlands trafen wir einige Teams der niederländischen Edition des „Baltic Sea Circle“ und es gab einen super Sonnenuntergang, umgeben von wunderschöner Natur.

 

 

Ursprünglich wollten wir bis nach Narva, dem Grenzort zu Russland, fahren. Diesen Plan haben wir unterwegs aus irgendwelchen Gründen geändert und landeten mitten im Wald in Vivikonna – oder dem, was davon noch übrig ist. Zu Sowjet-Zeiten befand sich hier eine wichtige Rüstungsfabrik, nach der Unabhängigkeit Estlands verfiel das Werk und der Ort verwandelte sich langsam in eine Art Geisterstadt. Einige verstreute Häuser sind noch bewohnt und ein paar Gebäude werden scheinbar von irgendwem genutzt. Die meisten Bauwerke verfallen aber immer mehr. Interessant und fotogen, aber definitiv kein Ort zum Wohlfühlen. „Trostlos“ beschreibt es irgendwie tatsächlich am besten.

 

 

Nach diesem Blick in die dunkle Vergangenheit zog es uns zurück an erfreulichere Orte. Der Peipussee ist als Europas fünftgrößter See rund siebenmal so groß wie der Bodensee. Etwa drei Fünftel der Fläche gehört zu Estland, der östliche Teil zu Russland. An der Nordostecke des Sees, direkt am Grenzfluss, liegt der kleine Ort Vasknarva mit seinem alten, orthodoxen Kloster, das wir uns zumindest von außen angesehen haben. Grob entlang des westlichen Seeufers fuhren wir durch dichtes Waldgebiet in Richtung des Pskovsker Sees. Dieses deutliche kleinere Gewässer liegt südlich des Peipussees und gehört zum allergrößten Teil zu Russland. Der Grenzverlauf ist oft nur etwa zweihundertfünfzig Meter vom Ufer entfernt und schon die westlichsten Inseln im See sind russisches Staatsgebiet. In der Nähe von Lüübnitsa fanden wir einen schönen Platz für die Nacht, an dem wir das Treiben der Grenzsoldaten am gegenüberliegenden Ufer problemlos sehen konnten. Nach Einbruch der Dunkelheit hieß es dann „In Russland ist noch Licht an“.

 

 

Eine geopolitische Besonderheit ist die Piste zwischen Värska und Saatse (bzw. genauer: zwischen den Dörfern Lutepää und Sesniki) läuft über russisches Gebiet. Diese Straße darf im Transit von jedem Kraftfahrzeug ohne Anmeldung, Überprüfung oder Visum befahren werden. Fahrräder und Fußgänger sind ebenso verboten wie das Anhalten auf russischem Gebiet. Irgendwann wird es wohl sicherlich einen Gebietstausch geben. Wir haben uns dieses Kuriosum jedenfalls genau angesehen und auch ein kleines Video gedreht.

 

In der Nähe von Perdaku sind wir nochmal bis direkt an die Grenze gefahren. Dieser Übergang ist offenbar nur dem kleinen Grenzverkehr der direkten Anlieger-Gemeinden vorbehalten. Etwa 120 Kilometer weiter westlich galt unser Interesse dann den „Megaphonen von Pahni“. Diese drei über mannsgroßen Holz-Trichter sind westlich des Dorfes Pahni von Studenten der Estnischen Kunsthochschule als Projekt mitten im Wald aufgestellt worden. Sie sollen, ähnlich wie gigantische Hörrohre, die Geräusche des Waldes verstärken und dem Besucher näher bringen. Die Idee ist nett, die Installation sehenswert, aber das mit der Verstärkung funktioniert unserer Ansicht nach in der Praxis dann doch nicht so doll. Trotzdem, ein schöner und skurriler Ort, der sich zu besuchen lohnt.

 

Estland   drum herum und mitten durch

 

Vor uns lag nun die Entscheidung, auf welchem Weg wir wieder nach Hause fahren sollten. Auf den Landweg über Polen hatten wir nicht erneut Lust. Die Fähren vom Baltikum nach Deutschland waren uns schlicht zu teuer und auch die Fährverbindungen Richtung Schweden waren nicht nach unserem Geschmack. Da wir noch genügend Zeit hatten und diese möglichst fernab allen Trubels und idealerweise auf schönen Strecken verbringen wollten, entschieden wir uns für die wohl unvernünftigste Lösung: Richtung Norden mit einigen Stopps und Abstechern nach Tallinn und über Finnland, Schweden und Dänemark nach Hause. Aber das ist dann eine andere Geschichte …

Zuletzt geändert: 25.06.2022

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